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Mathematica-Anwenderbericht: Die Weltharmonik - Mathematica im Konzert

Die Weltharmonik - Mathematica im Konzert

Karsten Gundermann, Komponist

Anlässlich des 450. Geburtstages von Johannes Kepler (1571 - 1630) gaben die Klosterkonzerte Maulbronn [1] das Oratorium "Die Weltharmonik" in Auftrag, das in der Klosterkirche Maulbronn am 13.05.2023 mit Sophie Sauter (Sopran), Marcus Ullmann (Tenor), dem Chor des Evangelischen Seminars und dem Orchester der Klosterkonzerte unter Leitung von Sebastian Eberhardt uraufgeführt wurde. Johannes Kepler besuchte von 1586 bis 1589 die Klosterschule Maulbronn, aus der das heutige Evangelische Seminar Maulbronn [2] hervorgegangen ist. Als Text-Vorlage des Oratoriums diente Keplers Werk "Harmonice mundi" von 1619.

In "Harmonice mundi" formuliert Kepler seine theologisch-naturphilosophischen Vorstellungen von Harmonien, d.h. von harmonischen Schwingungsverhältnissen, nach denen Gott das Universum formte, sowie dem menschlichen Vermögen, durch das Studium der Mathematik Gottes Schöpfung zu begreifen [3]. In fünf Bänden erläutert Kepler die mathematischen Grundlagen harmonischer Schwingungen (I, II), ihre Manifestation in der Musik (III), in den Abläufen der Natur und der menschlichen Gesellschaft (IV) und schließlich in den Planetenbewegungen des Sonnensystems (V). Um Keplers Gedanken im Oratorium so anschaulich wie möglich zu gestalten, wurden in Mathematica über 33 Videos gerendert und auf eine 4.5 m große runde Projektionsfläche über dem Lettner projiziert (Abb. 1).

Abb. 1 Premiere des Kepler-Projektes
Abb. 1 Premiere des Kepler-Projektes

Für den Einsatz von Wolfram Mathematica im Zusammenhang mit dem Oratorium für die Klosterkonzerte Maulbronn sprachen zum einen die Funktionsvielfalt von Mathematica in unterschiedlichsten Themenbereichen, der Zugriff auf die kuratierten Daten der Wolfram Knowledgebase und der ausgereifte Videoexport direkt aus dem Programm heraus. Da sich die Lichtverhältnisse der Projektion im Vorfeld schlecht einschätzen ließen, entstanden stark abstrahierte Darstellungen in kontraststarkem Schwarz-Weiß, welche die Aufführung mit einer klaren und formschönen Videoästhetik bereicherten.

Kepler schreibt zu Beginn des dritten Bandes: "Es ist schwierig, die Unterschiede, Gattungen und Maße der harmonischen Proportionen begrifflich zu fassen ohne Bezug auf musikalische Stimmen und Töne, da uns zur Darstellung dieser Dinge keine anderen Begriffe zur Verfügung stehen, als solche aus der Musik..." [4] Die angesprochene Nähe von Mathematik und Musik ermöglicht es umgekehrt, im Oratorium Keplers mathematische Gedanken musikalisch zu verdeutlichen und zusätzlich videografisch zu veranschaulichen. Während der Sänger auf der Bühne Keplers Experimente am Monochord live vorführt, zeigte das Video ergänzend die Saiten-Schwingungen in Slowmotion, akustisch unterstützt durch einen passenden amplitudenmodulierten Sinusklang. (Abb. 2)


Abb. 2: Resonante Schwingung in Zeitlupe

Die Diskussion von Wetter und Wetterereignissen ist ein Schwerpunkt des vierten Bandes der "Harmonice mundi". Kepler versteht Witterung und Klima als Folge der himmlischen Schwingungen von Sonne und Mond, der Einfluss von Planeten und Fixsternen wird hingegen oft kritisch hinterfragt. Im Oratorium wurden zur Veranschaulichung Wetterdaten des Airports Stuttgart aus der Wolfram Knowledgebase herangezogen. Die von Mathematica als TimeSeries organisierten Daten wurden jedoch nicht als ListLinePlot eingeblendet, sondern in den Zeitfluss der Musik des Oratoriums eingefügt. Dazu wurde die BarChart Funktion animiert, um die Messwerte von Temperatur, Windstärke und Luftfeuchtigkeit maßstäblich im Takt der Musik anzuzeigen. Die Bewegung des BarCharts wurde akustisch gespiegelt - so das Auf und Ab der Temperatur durch eine Cutoff-Filterbewegung, die Windstärke durch wechselnde Amplitude eines Windrauschens, die Luftfeuchtigkeit durch Melodie-Punkte, die bei Überschreitung von 90% in eine Regenfall-Symbolik überwechselten. (Abb. 3)


Abb. 3: Wetterdaten als bewegter BarChart

Die durch Mathematica ermöglichten Umwandlungen von statischen Grafiken (BarChart, PieChart etc.) in Videoanimationen ist eine ästhetisch ansprechende Darstellungsform, welche die zeitliche Veränderung von komplexen Messdaten auf neue Weise rezipieren lässt. So folgten zur Veranschaulichung von Keplers Gedanken zu "gesellschaftspolitischen Schwingungen" Animationen des deutschen Wahlverhaltens - eine dem PieChart verwandte Darstellungsweise (Abb. 4) - oder eine Animation zum Schwingungsverhalten von Aktienkursen. Hier wurden die Aktienkurse von sechs zufällig ausgewählten Aktien der Knowledgebase über den Zeitraum von einem Monat als animierter CandlestickChart dargestellt. Da der Parameter Zeit nun durch die Animation ausgedrückt ist, kann die Abszisse der Darstellung für eine Aufreihung verschiedener Aktien verwendet werden, Zusammenhänge zwischen Aktienkursen werden so erlebbar. (Abb. 5)


Abb. 4: Wahlverhalten

Abb. 5: Aktienkurse

Die Simulation von Keplers astronomischen Gedanken konnte Mathematica mit einzigartigen Daten und Funktionen wie HelioCoordinates, OrbitPath oder der ResourceFunction "SkyChart" unterstützen. Kepler betrachtete auch die um die Sonne schwingenden Planeten als eine Art unhörbare Musik mit sich ständig wandelnden Schwingungsverhältnissen, da das Kreisen auf elliptischen Bahnen im Aphel schneller und im Perihel langsamer erfolgt und die Frequenzen, wenn man sie in den uns hörbaren Bereich transponiert, auf- und wieder absteigen. Wohl keine andere Software hätte es vermocht, diesen komplexen Sachverhalt mit nur wenigen Zeilen Code als Video zu rendern und so dem Publikum zu veranschaulichen (Abb. 6). Das Oratorium endete mit einer eindrucksvollen SkyChart-Animation des Sternenhimmels über Maulbronn am Tage der Premiere.

Abb. 6  Planetenbewegungen in Zeitraffer
Abb. 6 Planetenbewegungen in Zeitraffer

Die Aufführungen wurden gefeiert und von der Presse positiv besprochen. Auch die Mathematica-Videos erhielten viel Lob und Bewunderung, mancher im Publikum war überrascht, wie "wunderbar und einfach" sie Keplers Gedanken folgen konnten. Veranstalter und Komponist danken daher herzlich Wolfram Research für die freundliche Erteilung der Lizenz sowie den Mitarbeitern der Firma ADDITIVE für die engagierte Beratung und Unterstützung beim Programmieren der Videos.

Karsten Gundermann, Komponist
Hamburg, 2023

Quellen

[1] www.klosterkonzerte.de
[2] www.seminar-maulbronn.de
[3] M. Caspar, Einleitung zu "Johannes Kepler, Weltharmonik", Oldenbourg, München 2006, S. 14*
[4] Johannes Kepler, Weltharmonik, Oldenbourg, München 2006, S. 87