Ueber die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Grösse.1

Bernhard Riemann

1  (Monatsberichte der Berliner Akademie, November 1859)

Meinen Dank für die Auszeichnung, welche mir die Akademie durch die Aufnahme unter ihre Correspondenten hat zu Theil werden lassen, glaube ich am besten dadurch zu erkennen zu geben, dass ich von der hierdurch erhaltenen Erlaubniss baldigst Gebrauch mache durch Mittheilung einer Untersuchung über die Häufigkeit der Primzahlen; ein Gegenstand, welcher durch das Interesse, welches Gauss und Dirichlet demselben längere Zeit geschenkt haben, einer solchen Mittheilung vielleicht nicht ganz unwerth erscheint.

Bei dieser Untersuchung diente mir als Ausgangspunkt die von Euler gemachte Bemerkung, dass das Product

∏ 1/(1 - 1/p^s) = ∑ 1/n^s,

wenn für typeset structure alle Primzahlen, für typeset structure alle ganzen Zahlen gesetzt werden. Die Function der complexen Ver änderlichen typeset structure, welche durch diese beiden Ausdrücke, so lange sie convergiren,  dargestellt wird, bezeichne ich durch typeset structure. Beide convergiren nur, so lange der reelle Theil von typeset structure grösser als typeset structure ist; es lässt sich indess leicht ein immer gültig bleibender Ausdruck der Function finden. Durch Anwendung der Gleichung

Underoverscript[∫, 0, arg3] e^(-n x ) x^(s - 1 ) dx = (∏ (s - 1))/n^s

erhält man zunächst

∏ (s - 1) ζ(s) = Underoverscript[∫, 0, arg3] (x^(s - 1) d x)/(e^x - 1 .)

Betrachtet man nun das Integral

∫ ((-x)^(s - 1) d x)/(e^x - 1)

von typeset structure bis typeset structure positiv um ein Grössengebiet erstreckt, welches den Werth typeset structure, aber keinen andern Unstetigkeitswerth der Function unter dem Integralzeichen im Innern enthält, so ergiebt sich dieses leicht gleich

(e^(-π s i) - e^(π s i)) Underoverscript[∫, 0, arg3] (x^(s - 1) d x)/(e^x - 1),

vorausgesetzt, dass in der vieldeutigen Function typeset structure der Logarithmus von typeset structure so bestimmt worden ist, dass er für ein negatives typeset structure reell wird. Man hat daher

2 sin π s ∏ (s - 1) ζ (s) = i Underoverscript[∫, ∞, arg3] ((-x)^(s - 1) d x)/(e^x - 1)

das Integral in der eben angegebenen Bedeutung verstanden.

Diese Gleichung giebt nun den Werth der Function typeset structure für jedes beliebige complexe typeset structure und zeigt, dass sie einwerthig und für alle endlichen Werthe von typeset structure, ausser typeset structure, endlich ist, so wie auch, dass sie verschwindet, wenn typeset structure gleich einer negativen geraden Zahl ist.

Wenn der reelle Theil von typeset structure negative ist, kann das Integral, typeset structure positiv um das angegebene Grössengebiet auch negativ um das Grössengebiet, welches sämmtliche übrigen  complexen Grössen enthält, erstreckt werden, da das Integral durch Werthe mit unendlich grossem Modul dann unendlich klein ist.  Im Innern dieses Grössengebiets aber wird die Function unter dem Integralzeichen nur unstetig, wenn typeset structure gleich einem ganzen Vielfachen von typeset structure wird und das Integral ist daher gleich der Summe der Integrale negativ um  diese Werthe genommen. Das Integral um den Werth typeset structure aber ist typeset structure, man erhält daher

2 sin π s ∏ (s - 1) ζ (s) = (2 π)^s ∑ n^(s - 1)((-i)^(s - 1) + i^(s - 1)),

also eine Relation zwischen typeset structure und typeset structure welche sich mit Benutzung bekannter Eigenschaften der Function typeset structure auch so ausdrücken lässt:

∏ (s/2 - 1) π^(-s/2) ζ (s)

bleibt ungeändert, wenn typeset structure in typeset structure verwandelt wird.

Diese Eigenschaft der Function veranlasste mich statt typeset structure das Integral typeset structure in dem allgemeinen Gliede der Reihe typeset structureeinzuführen, wodurch man einen sehr bequemen Ausdruck der Function typeset structure erhält. In der That hat man

1/n^s ∏ (s/2 - 1) π^(-s/2) = Underoverscript[∫, 0, arg3] e^(-n n π x) x^(s/2 - 1) d x,

also, wenn man

Underoverscript[∑, 1, arg3] e^(-n n π x) = ψ(x)

setzt,

∏ (s/2 - 1) π^(-s/2) ζ(s) = Underoverscript[∫, 0, arg3] ψ(x) x^(s/2 - 1) d x,

oder da

2 ϕ(x) = x^-1/2(2 ϕ(1/x) + 1),

(Jacobi, Fund. S. 184)2

∏ (s/2 - 1) π^(-s/2) ζ(s) = Underoverscript[∫, 1, arg3] ψ(x) x^(s/2 ...  x = 1/s(s - 1) + Underoverscript[∫, 1, arg3] ψ(x) (x^(s/2 - 1) + x^(-(1 + s)/2)) d x .

Ich setze nun typeset structureund

∏ (s/2) (s - 1) π^(-s/2) ζ(s) = ξ(t),

so dass

ξ(t) = 1/2 - (t t + 1/4) Underoverscript[∫, 1, arg3] ψ(x) x^(-3/4) cos(1/2 t log x) d x

oder auch

ξ(t) = 4 Underoverscript[∫, 1, arg3] d(x^3/2 μ^'(x))/(d x) x^(-1/4) cos(1/2 t log x) d x .

Diese Function ist für alle endlichen Werthe von typeset structure endlich, und lässt sich nach Potenzen von typeset structure in eine sehr schnell convergirende Reihe entwickeln. Da für einen Werth von typeset structure, dessen reeller Bestandtheil grösser als typeset structure ist, typeset structure endlich bleibt, und von den Logarithmen der übrigen Factoren von typeset structure dasselbe gilt, so kann die Function typeset structure nur verschwinden, wenn der imaginäre Theil von typeset structure zwischen typeset structure und typeset structure liegt. Die Anzahl der Wurzeln von typeset structure deren reeller Theil zwischen typeset structure und typeset structure liegt, ist etwa  

= T/(2 π) log T   /(2 π) - T   /(2 π) ;

denn das Integral typeset structurepositiv um den Inbegriff der Werthe von typeset structure erstreckt, deren imaginärer Theil zwischen typeset structureund typeset structure und deren reeller Theil zwischen typeset structure und typeset structure liegt, ist (bis auf einen Bruchtheil von der Ordnung der Grösse typeset structure) gleich typeset structure; dieses Integral aber ist gleich der Anzahl der in diesem Gebiet liegenden Wurzeln von typeset structure multiplicirt mit typeset structure. Man findet nun in der That etwa so viel reelle Wurzeln innerhalb dieser  Grenzen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass alle Wurzeln reell sind.  Hiervon wäre allerdings ein strenger Beweis zu wünschen; ich habe indess die Aufsuchung desselben nach einigen flüchtigen vergeblichen Versuchen vorläufig bei Seite  gelassen, da er für den nächsten Zweck meiner Untersuchung entbehrlich schien.

Bezeichnet man durch α jede Wurzel der Gleichung typeset structureso kann man typeset structure durch

∑ log(1 - (t t)/αα) + log ξ(0)

ausdrücken; denn da die Dichtigkeit der Wurzeln von der Grösse typeset structure mit typeset structure nur wie log typeset structurewächst, so convergirt dieser Ausdruck und wird für  ein unendliches typeset structure nur unendlich wie typeset structure er unterscheidet sich also von log typeset structure um eine Function von typeset structuredie für ein endliches typeset structurestetig und endlich bleibt und mit typeset structure dividirt für ein unendliches typeset structure unendlich klein wird. Dieser Unterschied ist folglich eine Constante, deren Werth durch Einsetzung von typeset structurebestimmt werden kann.

Mit diesen Hülfsmitteln lässt sich nun die Anzahl der Primzahlen, die kleiner als typeset structure sind, bestimmen.

Es sei typeset structure, wenn typeset structure nicht gerade einer Primzahl gleich ist, gleich dieser Anzahl, wenn aber typeset structure eine Primzahl ist, um typeset structuregrösser, so dass für ein typeset structure, bei welchem typeset structure sich sprungweise ändert,

F(x) = (F(x + 0) + F(x - 0))/2

Ersetzt man nun in

log ζ(s) = -∑ log(1 - p^(-s)) = ∑ p^(-s) + 1/2 ∑ p^(-2 s) + 1/3 ∑ ... p, arg3] x^(-s - 1) d x, p^(-2 s) durch s Underoverscript[∫, p^2, arg3] x^(-s - 1) dx, ...,

so erhält man

(log ζ(s))/s = Underoverscript[∫, 1, arg3] f(x) x^(-s - 1) d x,

wenn man

F(x) + 1/2 F(x^1/2) + 1/3 F(x^1/3) + ...

durch typeset structure bezeichnet.

Diese Gleichnung ist gültig für jeden complexen Werth typeset structurevon typeset structure, wenn typeset structure. Wenn aber in diesem Umfange die Gleichung

g(s) = Underoverscript[∫, 0, arg3] h(x) x^(-s) d log x

gilt, so kann man mit Hülfe des Fourier’schen Satzes die Function typeset structure durch die Function typeset structure ausdrücken. Die Gleichung zerfällt, wenn typeset structure reell ist und

g(a + b i) = g _ 1(b) + i g _ 2(b),

in die beiden folgenden:

g _ 1(b) = Underoverscript[∫, 0, arg3] h(x) x^(-a) cos (b log x) d log x,

i g _ 2(b) = -i Underoverscript[∫, 0, arg3] h(x) x^(-a) sin (b log x) d log x .

Wenn man beide Gleichungen mit

(cos(b log y) + i sin (b log y)) db

multiplicirt und von typeset structure bis typeset structure integrirt, so erhält man in beiden auf der rechten Seite nach dem Fourier’schen Satze typeset structure, also, wenn, man beide Gleichungen addirt und mit typeset structuremultiplicirt,

2 π i h(y) = Underoverscript[∫, a - ∞ i, arg3] g(s) y^s d s,

worin die Integration so auszuführen ist, dass der reelle Theil von typeset structure constant bleibt.

Das Integral stellt für einen Werth von typeset structure, bei welchen eine sprungweise Aenderung der Function typeset structure stattfindet, den Mittelwerth aus den Werthen der Function typeset structure zu beiden Seiten des Sprunges dar. Bei der hier vorausgesetzten Bestimmungsweise der Function typeset structure besitzt diese dieselbe Eigenschaft, und man hat daher völlig allgemein

f(y) = 1/(2 π i) Underoverscript[∫, a - ∞ i, arg3] (log ζ(s))/8 y^s d s .

Für typeset structure kann man nun den früher gefundenen Ausdruck

s/2 log π - log(s - 1) - log ∏ (s/2) + ∑^α log(1 + (s - 1/2)^2/αα) + log    ξ(0)

substituiren; die Integrale der einzelnen Glieder dieses Ausdrucks würden aber dann ins Unendliche ausgedehnt nicht convergiren, weshalb es zweckmässig ist, die Gleichung vorher durch partielle Integration in

f(x) = -1/(2 π i) 1 /(log x) Underoverscript[∫, a - ∞ i, arg3] (d log ζ(s)/s)/(d s) x^s d s(1)

umzuformen.

Da

-log ∏ (s/2) = lim(Overscript[Underscript[∑, n = 1], n = m] log(1 + s/(2 n)) - s/2 log    m),

für typeset structure, also

-(d 1/s log ∏ (s/2))/(d s) = Overscript[Underscript[∑, 1], ∞] (d 1/s log(1 + s/(2 n)))/(d s),

so erhalten dann sämmtliche Glieder des Ausdruckes für typeset structure mit Ausnahme von

1/(2 π i) 1 /(log x) Underoverscript[∫, a - ∞ i, arg3] 1/(s s) log ξ(0) x^s ds = log ξ(0)

die Form

+ 1/(2 π i) 1 /(log x) Underoverscript[∫, a - ∞ i, arg3] d(1/s log (1 - s/β))/(d s) x^s d s .

Nun ist aber

d(1/s log (1 - s/β))/(d β) = 1/((β - s) β^')

und, wenn der reelle Theil von typeset structure grösser als der reelle Theil von typeset structure ist,

-1/(2 π i) Underoverscript[∫, a - ∞ i, arg3] (x^s d s)/((β - s) β) = x^β/β = Underoverscript[∫, ∞, arg3] x^(β - 1) d x,

oder

= Underoverscript[∫, 0, arg3] x^(β - 1) d x,

je nachdem der reelle Theil von typeset structure negativ oder positiv ist. Man hat daher

1/(2 π i) 1 /(log x) Underoverscript[∫, a - ∞ i, arg3] d(1/s log (1 - s/β ... s = Underoverscript[∫, 0, arg3] x^(β - 1)/(log x) d x + const . im    ersten

und

= Underoverscript[∫, 0, arg3] x^(β - 1)/(log x) d x + const . im    zweiten    Falle .

Im ersten Falle bestimmt sich die Integrationsconstante, wenn man den reellen Theil von typeset structure negativ unendlich werden lässt; im zweiten Falle erhält das Integral von typeset structure bis typeset structure um typeset structureverschiedene Werthe, je nachdem die Integration durch complexe Werthe mit positivem oder negativem Arcus geschieht, und wird, auf jenem Wege genommen, unendlich klein, wenn der Coefficient von typeset structure in dem Werthe von typeset structure positive unendlich wird, auf letzterem aber, wenn dieser Coefficient negative unendlich wird. Hieraus ergiebt sich, wie auf der linken Seite typeset structure zu bestimmen ist, damit die Integrationsconstante wegfällt.

Durch Einsetzung dieser Werthe in den Ausdruck von typeset structureerhält man

f(x) = L i(x) - ∑^α (L i(x^(1/2 + α i)) + L i(x^(1/2 - α i))) + Underoverscript[∫, x, arg3] 1/(x^2 - 1) (d x)/(x log x) + log ξ (0),

wenn in typeset structure für typeset structure sämmtliche positiven (oder einen positiven reellen Theil enthaltenden) Wurzeln der Gleichung typeset structure ihrer Grösse nach geordnet, gesetzt werden. Es lässt sich, mit Hülfe einer genaueren Discussion der Function typeset structure, leicht zeigen, dass bei dieser Anordnung der Werth der Reihe

∑ (L i(x^(1/2 + α i)) + L i(x^(1/2 - α i))) log x

mit dem Grenzwerth, gegen welchen

1/(2 π i) Underoverscript[∫, a - b i, arg3] (d 1/s ∑ log (1 + (s - 1/2)^2/αα))/ds x^s d s

bei unaufhörlichem Wachsen der Grösse typeset structure convergirt, übereinstimmt; durch veränderte Anordnung aber würde sie jeden beliebigen reellen Werth erhalten können.

Aus typeset structurefindet sich typeset structuremittelst der durch Umkehrung der Relation

f(x) = ∑ 1/n F(1/x^n)

sich ergebenden Gleichung

F(x) = ∑ (-1)^μ 1/m f(1/x^m),

worin für typeset structure der Reihe nach die durch kein Quadrat ausser typeset structure theilbaren Zahlen zu setzen sind und typeset structure die Anzahl der Primfactoren von typeset structure bezeichnet.

Beschränkt man typeset structure auf eine endliche Zahl von Gliedern, so giebt die Derivirte des Ausdrucks  für typeset structureoder, bis auf einen mit wachsendem typeset structure sehr schnell abnehmenden Theil,

1/(log x) - 2 ∑^α (cos(α log x) x^(-1/2))/(log x)

einen angenäherten Ausdruck für die Dichtigkeit der Primzahlen typeset structure der halben Dichtigkeit der Primzahlquadrate typeset structure von der Dichtigkeit der Primzahlcuben u. s. w. von der Grösse  typeset structure.

Die bekannte Näherungsformel typeset structure ist also nur bis auf Grössen von der Ordnung typeset structure richtig und giebt einen etwas zu grossen Werth; denn die nicht periodischen Glieder in dem Ausdrucke von typeset structure sind, von Grössen, die mit typeset structure nicht in’s Unendliche wachsen, abgesehen:

L i(x) - 1/2 L i(x^1/2) - 1/3 L i(x^1/3) - 1/5 L i(x^1/5) + 1/6 L i(x^1/6) - 1/7 L i(x^1/7) + ...

In der That hat sich bei der von Gauss und Goldschmidt vorgenommenen und bis zu typeset structure drei Millionen fortgesetxten Vergleichung von typeset structuremit der Anzahl der Primzahlen unter typeset structure diese Anzahl schon vom ersten Hunderttausend an stets kleiner als typeset structure ergeben, und zwar wächst die Differenz unter manchen Schwankungen allmählich mit typeset structure. Aber auch die von den periodischen Gliedern abhängige stellenweise Verdichtung und Verdünnung der Primzahlen hat schon bei den Zählungen die Aufmerksamkeit erregt, ohne dass jedoch hierin eine Gesetzmässigkeit bemerkt worden wäre.  Bei einer etwaigen neuen Zählung würde es interessant  sein, den Einfluss der einzelnen in dem Ausdrucke für die Dichtigkeit der Primzahlen enthaltenen periodischen Glieder zu verfolgen.  Einen regelmässigeren Gang als typeset structurewürde die Function typeset structure zeigen, welche sich schon im ersten Hundert sehr deutlich als mit typeset structure im Mittel übereinstimmend erkennen lässt.

Notes

1 Riemann’s gesammelte mathematische Werke.

2 Jacobi’s gesammelte Werke Bd. I. S. 255