Bernhard Riemann
Meinen Dank für die Auszeichnung, welche mir die Akademie durch die Aufnahme unter ihre Correspondenten hat zu Theil werden lassen, glaube ich am besten dadurch zu erkennen zu geben, dass ich von der hierdurch erhaltenen Erlaubniss baldigst Gebrauch mache durch Mittheilung einer Untersuchung über die Häufigkeit der Primzahlen; ein Gegenstand, welcher durch das Interesse, welches Gauss und Dirichlet demselben längere Zeit geschenkt haben, einer solchen Mittheilung vielleicht nicht ganz unwerth erscheint.
Bei dieser Untersuchung diente mir als Ausgangspunkt die von Euler gemachte Bemerkung, dass das Product
wenn für alle Primzahlen, für alle ganzen Zahlen gesetzt werden. Die Function der complexen Ver änderlichen , welche durch diese beiden Ausdrücke, so lange sie convergiren, dargestellt wird, bezeichne ich durch . Beide convergiren nur, so lange der reelle Theil von grösser als ist; es lässt sich indess leicht ein immer gültig bleibender Ausdruck der Function finden. Durch Anwendung der Gleichung
erhält man zunächst
Betrachtet man nun das Integral
von bis positiv um ein Grössengebiet erstreckt, welches den Werth , aber keinen andern Unstetigkeitswerth der Function unter dem Integralzeichen im Innern enthält, so ergiebt sich dieses leicht gleich
vorausgesetzt, dass in der vieldeutigen Function der Logarithmus von so bestimmt worden ist, dass er für ein negatives reell wird. Man hat daher
das Integral in der eben angegebenen Bedeutung verstanden.
Diese Gleichung giebt nun den Werth der Function für jedes beliebige complexe und zeigt, dass sie einwerthig und für alle endlichen Werthe von , ausser , endlich ist, so wie auch, dass sie verschwindet, wenn gleich einer negativen geraden Zahl ist.
Wenn der reelle Theil von negative ist, kann das Integral, positiv um das angegebene Grössengebiet auch negativ um das Grössengebiet, welches sämmtliche übrigen complexen Grössen enthält, erstreckt werden, da das Integral durch Werthe mit unendlich grossem Modul dann unendlich klein ist. Im Innern dieses Grössengebiets aber wird die Function unter dem Integralzeichen nur unstetig, wenn gleich einem ganzen Vielfachen von wird und das Integral ist daher gleich der Summe der Integrale negativ um diese Werthe genommen. Das Integral um den Werth aber ist , man erhält daher
also eine Relation zwischen und welche sich mit Benutzung bekannter Eigenschaften der Function auch so ausdrücken lässt:
bleibt ungeändert, wenn in verwandelt wird.
Diese Eigenschaft der Function veranlasste mich statt das Integral in dem allgemeinen Gliede der Reihe einzuführen, wodurch man einen sehr bequemen Ausdruck der Function erhält. In der That hat man
also, wenn man
setzt,
oder da
(Jacobi, Fund. S. 184)2
Ich setze nun und
so dass
oder auch
Diese Function ist für alle endlichen Werthe von endlich, und lässt sich nach Potenzen von in eine sehr schnell convergirende Reihe entwickeln. Da für einen Werth von , dessen reeller Bestandtheil grösser als ist, endlich bleibt, und von den Logarithmen der übrigen Factoren von dasselbe gilt, so kann die Function nur verschwinden, wenn der imaginäre Theil von zwischen und liegt. Die Anzahl der Wurzeln von deren reeller Theil zwischen und liegt, ist etwa
denn das Integral positiv um den Inbegriff der Werthe von erstreckt, deren imaginärer Theil zwischen und und deren reeller Theil zwischen und liegt, ist (bis auf einen Bruchtheil von der Ordnung der Grösse ) gleich ; dieses Integral aber ist gleich der Anzahl der in diesem Gebiet liegenden Wurzeln von multiplicirt mit . Man findet nun in der That etwa so viel reelle Wurzeln innerhalb dieser Grenzen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass alle Wurzeln reell sind. Hiervon wäre allerdings ein strenger Beweis zu wünschen; ich habe indess die Aufsuchung desselben nach einigen flüchtigen vergeblichen Versuchen vorläufig bei Seite gelassen, da er für den nächsten Zweck meiner Untersuchung entbehrlich schien.
Bezeichnet man durch α jede Wurzel der Gleichung so kann man durch
ausdrücken; denn da die Dichtigkeit der Wurzeln von der Grösse mit nur wie log wächst, so convergirt dieser Ausdruck und wird für ein unendliches nur unendlich wie er unterscheidet sich also von log um eine Function von die für ein endliches stetig und endlich bleibt und mit dividirt für ein unendliches unendlich klein wird. Dieser Unterschied ist folglich eine Constante, deren Werth durch Einsetzung von bestimmt werden kann.
Mit diesen Hülfsmitteln lässt sich nun die Anzahl der Primzahlen, die kleiner als sind, bestimmen.
Es sei , wenn nicht gerade einer Primzahl gleich ist, gleich dieser Anzahl, wenn aber eine Primzahl ist, um grösser, so dass für ein , bei welchem sich sprungweise ändert,
Ersetzt man nun in
so erhält man
wenn man
durch bezeichnet.
Diese Gleichnung ist gültig für jeden complexen Werth von , wenn . Wenn aber in diesem Umfange die Gleichung
gilt, so kann man mit Hülfe des Fourier’schen Satzes die Function durch die Function ausdrücken. Die Gleichung zerfällt, wenn reell ist und
in die beiden folgenden:
Wenn man beide Gleichungen mit
multiplicirt und von bis integrirt, so erhält man in beiden auf der rechten Seite nach dem Fourier’schen Satze , also, wenn, man beide Gleichungen addirt und mit multiplicirt,
worin die Integration so auszuführen ist, dass der reelle Theil von constant bleibt.
Das Integral stellt für einen Werth von , bei welchen eine sprungweise Aenderung der Function stattfindet, den Mittelwerth aus den Werthen der Function zu beiden Seiten des Sprunges dar. Bei der hier vorausgesetzten Bestimmungsweise der Function besitzt diese dieselbe Eigenschaft, und man hat daher völlig allgemein
Für kann man nun den früher gefundenen Ausdruck
substituiren; die Integrale der einzelnen Glieder dieses Ausdrucks würden aber dann ins Unendliche ausgedehnt nicht convergiren, weshalb es zweckmässig ist, die Gleichung vorher durch partielle Integration in
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umzuformen.
Da
für , also
so erhalten dann sämmtliche Glieder des Ausdruckes für mit Ausnahme von
die Form
Nun ist aber
und, wenn der reelle Theil von grösser als der reelle Theil von ist,
oder
je nachdem der reelle Theil von negativ oder positiv ist. Man hat daher
und
Im ersten Falle bestimmt sich die Integrationsconstante, wenn man den reellen Theil von negativ unendlich werden lässt; im zweiten Falle erhält das Integral von bis um verschiedene Werthe, je nachdem die Integration durch complexe Werthe mit positivem oder negativem Arcus geschieht, und wird, auf jenem Wege genommen, unendlich klein, wenn der Coefficient von in dem Werthe von positive unendlich wird, auf letzterem aber, wenn dieser Coefficient negative unendlich wird. Hieraus ergiebt sich, wie auf der linken Seite zu bestimmen ist, damit die Integrationsconstante wegfällt.
Durch Einsetzung dieser Werthe in den Ausdruck von erhält man
wenn in für sämmtliche positiven (oder einen positiven reellen Theil enthaltenden) Wurzeln der Gleichung ihrer Grösse nach geordnet, gesetzt werden. Es lässt sich, mit Hülfe einer genaueren Discussion der Function , leicht zeigen, dass bei dieser Anordnung der Werth der Reihe
mit dem Grenzwerth, gegen welchen
bei unaufhörlichem Wachsen der Grösse convergirt, übereinstimmt; durch veränderte Anordnung aber würde sie jeden beliebigen reellen Werth erhalten können.
Aus findet sich mittelst der durch Umkehrung der Relation
sich ergebenden Gleichung
worin für der Reihe nach die durch kein Quadrat ausser theilbaren Zahlen zu setzen sind und die Anzahl der Primfactoren von bezeichnet.
Beschränkt man auf eine endliche Zahl von Gliedern, so giebt die Derivirte des Ausdrucks für oder, bis auf einen mit wachsendem sehr schnell abnehmenden Theil,
einen angenäherten Ausdruck für die Dichtigkeit der Primzahlen der halben Dichtigkeit der Primzahlquadrate von der Dichtigkeit der Primzahlcuben u. s. w. von der Grösse .
Die bekannte Näherungsformel ist also nur bis auf Grössen von der Ordnung richtig und giebt einen etwas zu grossen Werth; denn die nicht periodischen Glieder in dem Ausdrucke von sind, von Grössen, die mit nicht in’s Unendliche wachsen, abgesehen:
In der That hat sich bei der von Gauss und Goldschmidt vorgenommenen und bis zu drei Millionen fortgesetxten Vergleichung von mit der Anzahl der Primzahlen unter diese Anzahl schon vom ersten Hunderttausend an stets kleiner als ergeben, und zwar wächst die Differenz unter manchen Schwankungen allmählich mit . Aber auch die von den periodischen Gliedern abhängige stellenweise Verdichtung und Verdünnung der Primzahlen hat schon bei den Zählungen die Aufmerksamkeit erregt, ohne dass jedoch hierin eine Gesetzmässigkeit bemerkt worden wäre. Bei einer etwaigen neuen Zählung würde es interessant sein, den Einfluss der einzelnen in dem Ausdrucke für die Dichtigkeit der Primzahlen enthaltenen periodischen Glieder zu verfolgen. Einen regelmässigeren Gang als würde die Function zeigen, welche sich schon im ersten Hundert sehr deutlich als mit im Mittel übereinstimmend erkennen lässt.
1 | Riemann’s gesammelte mathematische Werke. |
2 | Jacobi’s gesammelte Werke Bd. I. S. 255 |